Nach Jahren des Fahrradfahrens und vielen schmerzhaften, leidvollen Stunden auf unterschiedlichsten Rädern in verschiedensten Geländen stieß ich, schon immer ein Fahrradenthusiast, endlich und unverhofft auf Juliane Neuß, eine passionierte Fahrradspezialistin, die ein ausgezeichnetes Buch über die Fahrradergonomie geschrieben hat.

Ergonomie am Fahrrad - ein paar Gedanken

Die Fahrradindustrie hat das Fahrradfahren als urbanen Lifestyle entdeckt.
Das Fahrrad ist im Trend, ist Statussymbol und Lieblingsobjekt, das meldet der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) im März 2016 und gibt bekannt, dass der anteilige Umsatz mit Fahrrädern und E-Bikes mit 2,42 Mrd. € um ganz 12 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gesteigert werden konnte.
Bei solchen Zahlen lässt sich leicht auf eine enorme Nachfrage zurück schließen.
Um dieser Nachfrage nachzukommen haben sich viele Hersteller auf Fahrradgrößen geeinigt, die für uns Fahrradfahrer leicht zu verstehen sind: S, M, L, XL etc.
So kauft man heute sein Fahrrad von der Stange. Die Ausstattung, das Design, die Features und die unterschiedlichen Antriebsversionen sind dabei der eigentliche Magnet. Ob das Fahrrad insbesondere der Rahmen Größenmäßig überhaupt zu einem passt, das spielt keine große Rolle - zunächst.
Das Ergebnis der mangelnden individuellen Anpassung kann man dann in den unzähligen Kellern, Garagen und Fahrradställen beobachten: Fahrräder, die kaum genutzt werden, die in der Ecke ein trauriges Dasein fristen - ohne Chance auf Benutzung.
Was sind die Gründe?
Ist es der platte Reifen und die mangelnde Zeit ihn zu reparieren, oder ein anderer Defekt, oder macht das Auto - oder Busfahren wieder mehr Spaß?
Es ist das Fahrradfahren auf Fahrrädern, die aufgrund fehlender Ergonomie nicht an unsere individuelle Körpergröße angepasst sind, das uns Schmerzen und Leiden bereitet; und daher landet das Fahrrad in der Rumpelkammer!

 

Der Sattel wird zum Problem

Die Fahrradindustrie ahnt, das da irgendwas falsch läuft. Schnell wird z.B. der Sattel zum Problem (als das Übel schlechthin) deklariert. Deshalb haben sich Fahrradfahrer, Händler und Hersteller schnell darauf geeinigt, dass hier ein großes Innovations-Bedürfniss besteht - denn es schmerzt der Hintern!
Man kann sich sicher sein, dass der Händler vor Ort bei der Frage nach dem Sattel mit den Schultern zuckt und an seine große Verkaufswand verweist, die ein üppiges Angebot an Fahrradsätteln bereitstellt. Es ist sogar üblich - wie in keiner anderen Branche, soweit mir bekannt - das der Kunde den Sattel bis zu einem Monat ausprobieren und ohne Regress wieder zurückgeben darf. In der Regel wird er dann einen zweiten und dritten Sattel ausprobieren und dann irgendwo bei einem Modell hängenbleiben, meist, weil alles irgendwie gut und schlecht gleichermaßen psst. Da gibt es nicht "die Lösung" und dennoch wird in vielen Fachforen darüber debattiert "ob es vielleicht doch dieses oder jenes Konzept das Beste wäre".
Auch dort wird sich der "geplagte" Fahrradfahrer informieren und mitunter zum "Fan oder Prophet" mancher Sattelkonzepte, weil es ihn doch geben muss, den einen Sattel der passen wird.
Fahrrad - und Sattelhersteller bringen nicht umsonst eine Vielzahl neuer Konzepte auf den Markt bringen, die sich teilweise erheblich widersprechen.
Ich vermute es gibt ihn nicht, den "richtigen" und "passenden" Sattel, ohne vollständige Ergonomie-Anpassung an das jeweilige Fahrrad.

Sind Liegefahrräder die Lösung?

Manch einer weicht wegen dieser Problematik auf Liegefahrräder aus. Da ist zunächst alles anders, die Sitz-bzw. Liege-Haltung produziert völlig neue Fahrgefühle und oft hört man von Liegefahrrad-Anhängern, das die Welt nun in Ordnung sei. Meist hält das nicht lange an. Auch die Liegerad-Körperhaltung ist nicht so ganz ohne Proglemeund führt bei nicht ausreichender athletischer Sportlichkeit zu Fehlhaltungen, z.B. in der Halswirbelsäule. Und von der verkehrstechnisch vergleichsweise gefährlichen "Tieflage" auf dem Asphalt, ist davon abzuraten auf der Strasse zu fahren. Nehmen Sie damit lieber den Fahrradweg...

Die Fahrräder sind einfach zu kurz!

Warum passen die Sattel also nicht?
Um es mal ganz einfach auszudrücken: Es passt nichts, weil die Fahrräder in der Regel für die Meisten von uns viel zu kurz sind!
Sie sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten kürzer und kürzer geworden und der Trend geht weiter. Mancher Hersteller begründet dies mit "Wendigkeit" oder "Agilität", die der Kunde wünscht. "Vorlauf" oder "Nachlauf" bringen die Anderen ein, Fachbegriffe aus der Rahmengeometrie, die die Vorwärtsbewegung des Fahrrads beschreiben, die durch besondere Winkel in den entsprechenden Steuerrohren und Sattelrohren der Rahmen erzeugt werden. Daraus resultieren unterschiedliche Radstände, die wiederum Einfluss auf das Fahren haben usw.

 

Der Rennradlenker und sein Einfluss auf das Fahrrad

Juliane Neuss bringt zu dieser Thematik eine ganz andere Argumentation, die mich von Anfang an mehr überzeugt hat. Sie berichtet, wie zunächst die Ära der Sportfahrradfahrer mit ihren langen gebogenen Rennradlenkern die Spitze des Fahrradfahrens symbolisiert haben. Der Sportler musste sich weit nach vorne neigen, um den Lenker zu erreichen. Dies diente vor allem der Aerodynamik, die bei den erzielten Geschwindigkeiten der Tour de France große Auswirkung hatte. Durch diese weite Vorverlagerung des Fahrers konnten die drei Belastungspunkte Hände, Gesäß und Füße in einem physikalischem Gleichgewicht gehalten werden. Das hatte schon etwas von guter Ergonomie - nicht umsonst orientiert sich der Breitensport immer an den Spitzenathleten, um von deren Erkenntnissen zu partizipieren.
Was nun folgte war ein schleichender Prozess, der sich unmerklich unter der Oberfläche entwickelte. Die Rahmen, die ehemals unter den Redradsportlern nicht allzu lang konzipiert waren, jedoch durch dem langen Vorbau mit dem noch längeren nach vorne und unten gebogenen Rennlenkern lang genug für den Athlet waren, wurden in das Alltags-Fahrrad transferiert. Zunächst war noch alles gut, denn auch für "normale" Fahrradfahrer war das Rennrad mit Rennlenker eine große Mode - wer was auf sich hielt hatte so ein Rennrad.

 

Das Montainbike verlangt kurze und wendige Rahmen

Dann kam die Mountainbike-Welle aus den USA. Eine weitere "Elite" des Fahrradsports hatte damit eine neue Mode vom Damm gebrochen. Wir alle wollten ein Mountainbike!
Der Rennlenker wurde damals just abgeschraubt und man kaufte sich einen Lenker für den Trail. Was blieb, war der agile, kurze Rahmen. Und spätestens jetzt kommen wir dem Problem näher. Der Rahmen war also im Grunde der selbe, mancherorts vielleicht sogar noch etwas kürzer, weil man damit noch beweglicher war, aber, der Lenker reduzierte die Gesamtlänge, auf die sich der Fahrradfahrer einstellte auf ein so kurzes Maß, dass man fast aufrecht im Rad saß. Es ist klar, dass damit nun auch der Sattel deutlich mehr ins Gewicht fiel, um die physikalischen Kräfte-Parrallelogramme auszugleichen. Was vielleicht am Berg und im Downhill-Bereich von Vorteil ist, bei uns "Normalfahrern" wurde diese Rahmenphilosophie eins zu eins mit all den Problemen übernommen.

 

Aktuelle Rahmen sind meist immer zu kurz

Vielleicht kommt hinzu, dass der Kunde heutzutage unter all den Fahrradtypen im Grunde ein vielseitiges Fahrrad möchte, damit er das Meiste, das ihn interessiert, abdecken kann. Wer möchte denn gleich drei oder vier Fahrräder sein eigen nennen müssen? Die Vielseitigkeit bekommt der Kunde nur durch Kompromisse. Er entscheidet sich für ein Fahrrad mit deutlich zu kurzem Rahmen plus diverse Ausstattungsvarianten.
Dann wird noch schnell die Rahmengröße bestimmt, auch das meist nur unter seltsamen Richtlinien, die kaum ernstzunehmende Angaben sind: die Rahmenhöhe wird meist durch den über dem fallenden Rohr-Stehen gemessen. Das führt dann beispielsweise bei einem Menschen mit kurzen Beinen und langem Oberkörper zu einem Fahrrad der Größe "S", obwohl die betreffende Person vielleicht schon deutlich über 1,80 m ist. Frust ist damit angesagt, weil man nur sehr aufrecht am dem Fahrrad sitzen kann und damit viel zuviel Last auf das Gesäß kommt. Dann beginnt die Sattel-Odysee und am Ende bleibt das Fahrrad zu Hause stehen und stirbt einen langsamen Tod durch "Nichtgebrauchen".
 

Zweifelhafte Reaktion der Fahrradindustrie

Die Fahrradindustrie reagiert seit einigen Jahren mit zweifelhaften Ergonomie-Konzepten, um dem Problem des unbequemen Fahrens beizukommen. Es fehlt jedoch an Überblick und vor allem an grundlegenden Erkenntnissen jenseits von verkaufsstrategischen Überlegungen. Man kann nicht so viele Fahrräder verkaufen, wenn man erkannt hat, dass Jeder im Grunde sehr genau auf sein Fahrrad zugeschnitten sein muss. Es kommt dabei manchmal auf wenige Zentimeter an, die dann entscheiden, ob der Vorbau doch länger sein muss, damit der Druck im Gesäß merklich abnimmt, bevor man einen anderen Sattel ausprobiert.

 

Ein Maßrahmen als Lösung

Ein Maßrahmen löst in der Regel all diese Probleme.
Durch individuellem Maßnehmen  kann man von vornherein den unterschiedlichen Anpassungsschwierigkeiten am Fahrrad begegnen, ohne das man sich in den verwirrenden und teilweise sehr widersprüchlichen Ergonomiekonzepten der Hersteller verlieren muss. Man startet auf einem ganz anderem Niveau, und bringt die Ergonomie zu einem stimmigen Konzept.
Die Gesetzmäßigkeiten der richtigen Fahrradergonomie laufen jedoch naturgemäß der Fahrradindustrie zuwider. Denn man will viele Fahrräder verkaufen und nicht nur ein einziges, das passt, mit dem der Kunde sein Leben lang zufrieden ist.

 

Juliane Neuss

Um die Gesetzmäßigkeiten der richtigen und nachhaltigen Fahrrad - Ergonomie kümmert sich Juliane Neuss seit über dreißig Jahren.
In zahlreichen Vorträgen und sehr einprägsamen, schriftlichen Abhandlungen klärt sie über die Problemzonen bei der Anpassung des Fahrrads an den Menschen auf. Die wichtigste Prämisse dabei ist, dass jeder Körper einzigartig in seiner Geometrie ist und daher auch eine Maßanfertigung oder zumindest eine Maßanpassung an das jeweilige Fahrrad braucht, damit das Fahrradfahren angenehm bleibt und Spass macht.

Seit vielen Jahren stehe ich mit Juliane Neuss in regem Austausch und Kontakt. Wir ergänzen uns miteinander in tiefem Verständnis der Materie der Körperhaltung, sowohl aus physiotherapeutischer als auch aus ergonomisch-fahrradspezifischer Sicht.

Im folgenden Bild sieht man eine fachmännische Ergonomie Anpassung nach Juliane Neuss:

Fahrrad-Ergonomie_Praxis Schmidt und Juliane Neuss

So könnte Ihr Fahrrad passen, Kurzanleitung ( von Juliane Neuss)

Ergonomisch korrekt ist anstrengend bequem!
 

  • Sattel so hoch, dass man mit dem gestreckten Bein mit dem Vorfuß auf dem Pedal steht. Beim Treten wird die Ferse angehoben und dann ist das Bein im tiefsten Punkt ganz leicht angewinkelt.

  • Es sollte grundsätzlich mit dem Vorfuß auf der Pedale getreten werden, damit das Knie nicht überlastet wird.

  • Sattelposition so einstellen, dass bei waagerechter Pedal-Position das Knie-Lot über oder vor der Pedalachse ist (und gleichzeitig über dem Zehengrundgelenk). Ist der Lenker deutlich unter Sattelhöhe, muss das Knielot auf jeden Fall vor der Pedalachse liegen.

  • Sitzposition so wählen, dass die Rückenmuskulatur tragen kann (tonisiert ist). Eine zu aufrechte Sitzposition mit gleichzeitig hoher Lenkerposition führt zur Erschlaffung der Rückenmuskulatur und zur Überlastung der Bandscheiben.

  • Sitzposition trainieren, damit der Rücken seine natürliche S-Form über lange Zeit halten kann. Bei der richtigen Rückenneigung ist mit der S-Form der Wirbelsäule ein entspanntes Geradeausschauen möglich.

  • Lenkerentfernung so groß wählen, dass der Schulter-Arm-Winkel optimal tragen kann (90°).

  • Ein zu kleiner Lenker-Sattel-Abstand führt zur Ausgleichsbewegung der Wirbelsäule in Form eines Rundrückens und Aufrichten des Beckens mit der Folge, dass die Lenden-Lordose nicht mehr in die Haltearbeit mit einbezogen werden kann.

  • Lenkerposition so wählen, dass bei korrekter Beckenstellung Arm- und Rückenmuskulatur gleichmäßig am Abstützen des Oberkörpers beteiligt sind.

  • Griff- und Lenkerposition so wählen, dass die Arme leicht eingewinkelt (innenrotiert) sein können, um Stöße von vorne leicht abfedern zu können. Niemals mit durchgedrückten Armen fahren!

  • Dynamisch fahren! Jeder Positionswechsel, auch kleine Bewegungen beim Fahren helfen, die Muskeln wieder zu entspannen und mit Nährstoffen zu versorgen.

    Quelle: Juliane Neuß

 

 

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